Wie sich die Digitalisierung auf die Textilindustrie auswirkt
Die Textilindustrie erfährt derzeit die Auswirkungen der Digitalisierung – steigende Individualisierung, Vernetzung von Geräten und Menschen sowie fortschreitende Automatisierung von Produktions- und Logistikprozessen rücken zunehmend in den Fokus.

Technologische Innovationen und sich verändernde Kund:innenerwartungen erfordern neue Geschäftsmodelle und Organisationsprinzipien in der Textilbranche. Lesen Sie in diesem Artikel, wie sich die Digitalisierung auf die Textilindustrie auswirkt und welche Folgen dies für ihre Kund:innen, Verkaufskanäle, Textilprodukte und die Wertschöpfungskette der Textilindustrie hat.
Trend zur Fokussierung auf Kund:innenbedürfnisse
Es wird in Zukunft nicht mehr den bzw. die Standard-Kund:in geben, welche ein bestimmtes Kleidungsstück suchen. Stattdessen zeichnen sich in der Studie neun Kund:innengruppen in den Bereichen Economy und Premium mit individuellen Bedürfnissen ab – Standard stirbt schrittweise aus.
Das Leben der Menschen wird zunehmend von Geräten beeinflusst, die jederzeit einen Zugang zur digitalen Welt ermöglichen. Das hat nicht nur Auswirkungen auf das Kommunikationsverhalten, sondern prägt in hohem Ausmaß auch das Konsumverhalten. Denn die Ansprüche der Kund:innen werden immer individueller, mit Standard-Produkten und Standard-Kommunikation werden sie in Zukunft nicht mehr ansprechbar sein. Im Gegenteil, zukünftig werden sogar Textilprodukte und -services möglich sein, die sich auch nach dem Kauf an veränderte Bedürfnisse der Kund:innen anpassen können.
Dazu muss man aber die Werte und das Konsumverhalten der Kund:innen gut kennen. Eine differenzierte Analyse der Kund:innengruppen unter Berücksichtigung der Digitalisierung und die Entwicklung zeitgemäßer Marketingkonzepte ist daher unerlässlich, um den Kontakt zu Kund:innen nicht zu verlieren.
Trend zu individualisierter Kommunikation
Veränderte Kund:innenbedürfnisse erfordern ein Umdenken der Unternehmen im Dialog mit Kund:innen.
Die individualisierte Kommunikation über sämtliche analoge und digitale Kanäle hinweg wird ein zentraler Bestandteil eines erfolgreichen Geschäftsmodells der Zukunft sein.
- Das digitale Profil der Kund:innen: Um einen entsprechenden Dialog mit Kund:innen zu realisieren, ist ein detailliertes, digitales Abbild der Kund:innen erforderlich. Big Data und clevere CMS-Systeme sind diesbezüglich eine wesentliche Grundlage, um eine ganz neue Form der Kund:innentransparenz zu erlangen.
- Individuelle Kund:innenansprache: Moderne Targeting-Methoden machen die gezielte Ansprache von Kund:innen mit individualisierten Kaufangeboten erheblich einfacher. So adressierte etwa die Hamburger Biermarke Astra mit mit einem smarten Plakat ausschließlich weibliche Passantinnen. Eine mit automatischer Gesichtserkennung ausgestattete Kamera erkannte das Geschlecht der passierenden Person und spielte entsprechende Werbespots ab.
- Von Multichannel zu Omnichannel: Von Presale- und Marketingaktivitäten über Verkaufskontakte bis zur Kund:innenbetreuung sind im Zuge der Digitalisierung mit Apps, sozialen Netzwerken und Online-Portalen neue Kommunikationskanäle entstanden, die in die Gesamtstrategie einbezogen werden müssen.
"Die generelle Empfehlung für Bekleidungsunternehmen ist: Kenne deine Kundin bzw. deinen Kunden, überlege, wie du mit ihr bzw. ihm sprechen kannst, und finde die richtigen Kanäle", meint Dr. Ulla Ertelt, Markt- und Zukunftsforschung.
Trend zur Entkoppelung von Infrastruktur und Angebot
Im Zuge der Digitalisierung kommt es auch in der Textilindustrie zu einer verstärkten Entkoppelung von Infrastruktur und Angebot. Der stationäre Handel ist in dieser Hinsicht auf zweifache Weise betroffen: Zum einen haben Onlineshops und Marktplätze erhebliche Marktanteile abgeschöpft, bevor die Textilbranche adäquat reagieren konnte. Zum anderen verlagert sich der Point of Sale in Zukunft immer mehr in den digitalen Bereich. Kommunikations- und Informationsplattformen wie Pinterest, WeChat oder Facebook entwickeln sich zunehmend zum Verkaufskanal.
- Der stationäre Textilhandel der Zukunft: Es werden auch in Zukunft noch stationäre Geschäfte bestehen, die sich jedoch massiv verändern werden. Die klassischen, analogen Stores werden in Zukunft nur mehr wenige Kund:innensegmente ansprechen – virtuelle Shoppingerlebnisse und zusätzliche Dienstleistungen abseits des eigentlichen Geschäftsmodells werden die Hauptmotivatoren für Kund:innen sein, ein stationäres Geschäft zu besuchen. Converse eröffnete beispielsweise seinen Kund:innen mit der App “The Sampler“ die Möglichkeit, Schuhe in Augmented Reality virtuell anzuprobieren.
- Die Verschmelzung von Online und Stationär: Der Kaufprozess muss an sämtlichen Orten ermöglicht werden, an denen Kund:innen für Shopping ansprechbar sind. Es geht dabei um eine geeignete Kombination aus digitalen und analogen Konzepten, die für den bzw. die jeweilige:n Kund:in geeignet sind. Die Supermarktkette Tesco bietet etwa in Südkorea seit 2011 virtuelle Geschäfte, die vor allem für Pendler:innen gedacht sind. In U-Bahnen können Kund:innen QR-Codes an den Wänden scannen und über ihre Smartphones einkaufen. Der Einkauf wird dann nach Hause oder in den Kofferraum des eigenen PKW geliefert.
Das Ende von Standard-Kund:innen wird vor allem am Point of Sale spürbar. Die Vernetzung der analogen und digitalen Kanäle muss daher mit Kund:innenprofilen verknüpft sein, um individuelle Angebote am jeweiligen Point of Sale zu ermöglichen. Die Digitalisierung ist zwar einerseits eine Gefahr für den stationären Handel, bietet gleichzeitig aber auch vielfältige Chancen durch neuartige Vertriebskanäle.
Trend zu individueller und technologisierter Kleidung
Die Auswirkungen der Digitalisierung beschränken sich nicht nur auf Kund:innenbedürfnisse und Kommunikation. Die Anforderungen an die Produkte selbst verändern sich. Individualisierung und Technologisierung von Kleidung sind hier wesentliche Trends, die sich auch in Zukunft fortsetzen. Wearable Technology und Functional Clothing werden in naher Zukunft zum Alltag gehören.
Individualisierung von Kleidung
Die immer individuelleren Ansprüche von Konsument:innen und die technologischen Möglichkeiten im Zuge der Digitalisierung treiben auch in der Textilbranche die Individualisierung voran. War es bis vor kurzem der Maßschneiderin bzw. dem Maßschneider vorbehalten, die Kleidung passend für die jeweiligen Kund:innen zu schneidern, so werden in Zukunft Kund:innen mittels Apps oder Smart Mirrors 3D-vermessen und ihre Kleidung individuell angepasst und hergestellt. Individuell gestaltete Kleidung zu einem leistbaren Preis wird für viele Menschen möglich.
In manchen Kund:innensegmenten lässt sich zudem eine Tendenz erkennen, dass Kund:innen eigene Ideen in Designs und Kollektionen einbringen möchten. Die Social Media Aktion von Esprit #ImPerfect ist als Reaktion auf diesen Trend zu sehen. Kund:innen werden aufgerufen, sich selbst zu fotografieren, um die daraus gewonnenen Eindrücke in die neue Esprit-Kollektion einfließen zu lassen.
Durch innovative Technologien entlang der gesamten Wertschöpfungskette wird die Individualisierung automatisiert ablaufen. Das gilt sowohl für die Größe und Passform als auch für Design und spezielle Applikationen wie etwa LED-Einsätze. Alastair Harvey, Chief Solutions Officer, Cortexica Vision Systems fasst diesen Trend wie folgt zusammen:
„Auf der Makroebene wird der Kunde in naher Zukunft mehr Einfluss auf das Design des Produkts haben, das er kaufen möchte – Individualisierung ist der Schlüssel. In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden Unternehmen Kleidung auf einer On-Demand Basis produzieren müssen, was eine effizientere Gestaltung von Supply Chain und Produktion erforderlich macht. Wir werden auch 3D-Drucker sehen, die Massenware produzieren. Wir werden Kund:innen in Stores gehen sehen, die ihr Kleidungsstück selbst designen und nahezu sofort damit den Store wieder verlassen. Es wird sehr interaktiv werden, da physische Stores etwas wirklich Ansprechendes und Praktisches anbieten müssen, um im Kampf gegen die Digitalisierung zu bestehen.“
Technologisierung von Kleidung
Die Lebenswelten von Kunden werden immer digitaler. Konsumgüterhersteller reagieren darauf, indem sie ihre Produkte ebenfalls digitalisieren. Auch in der Textilindustrie entwickeln immer mehr Anbieter:innen Produkte in den Bereichen Wearable Technology, also um technologische Funktionen erweiterte Kleidung und Functional Clothing, d.h. Kleidung, die neuartige Funktionen erfüllt. Neben eingewobenen LEDs und Kommunikationsschnittstellen zeichnen sich aber noch eine Reihe weiterer Entwicklungsbereiche ab:
- Beauty: Kosmetische Textilien, die auf Basis von Mikropartikeln feuchtigkeitsspendend oder erfrischend wirken.
- Gesundheit: Textilien, die Vitalwerte überwachen oder für Pflegezwecke Dritten zur Verfügung stehen, z. B. orthopädische Sohlen von Wiivv oder der brustkrebserkennende BhitBra von Cyrcadia Health.
- Komfort: Textilien mit eingebauter Temperatur- und Feuchtigkeitsregulierung. Das Unternehmen Earebel bietet z. B. bereits Mützen mit integrierten Soundboxen an.
- Optimierung: Textilien, die über Elektrostimulation, den Muskelaufbau fördern, z.B. Bodystreet.
- Sicherheit: Kleidung mit eingebautem Blinker im Ärmel, Arbeitskleidung mit aktiven Leuchtelementen, sturzabfedernde Textilien.
- Support: Textilien, die Energie erzeugen, z.B. die Einlegesohle für Schuhe von SolePower, die elektrische Energie durch Bewegung erzeugt, in einem Akku speichert und mit dieser Energie elektrische Geräte aufladet.
Adaptive Produkte
Durch die Kombination individueller und technologischer Textilprodukte werden in Zukunft vermehrt adaptive Produkte entstehen. Sie passen sich auch nach dem Kauf an die individuellen Bedürfnisse des Kunden an. Charms Armbänder oder Funktionskleidung sind bereits verfügbare Anwendungen dieses Prinzips. Zusätzlich wird die Steuerung der Kleidung per Smartphone immer wichtiger werden. Nutzer:innen können so beispielsweise bei LED-Textilien je nach Stimmung die Farbe steuern. Oder die Textilien werden mit Sensoren versehen, die nur mit dem Smartphone sichtbar werden und das Aussehen der Kleidung verändern oder nützliche Informationen beinhalten.
Trend zur Automatisierung der Wertschöpfungskette
In einigen Jahren werden die Wertschöpfungsketten der Textilindustrie zum Großteil automatisiert sein, insbesondere in den Bereichen Produktion und Logistik.
Drastische Verkürzung der Produktionszeit
Disruptive Innovationen wie automatische Nähmaschinen und industrielle 3D-Drucker ermöglichen eine deutliche Verkürzung der Produktionszeit. Auch natürliche und naturnahe Fasern können in wenigen Jahren 3D gedruckt werden.
Einer der Vorreiter auf diesem Gebiet ist Adidas. Das Unternehmen hat die Produktion seiner Turnschuhe fast zur Gänze automatisiert. Sämtliche Materialien, mit Ausnahme der Schnürsenkel, werden gedruckt. Mitarbeiter sind nur mehr für die Überwachung der Maschinen abgestellt. Statt einer Produktionszeit von drei Monaten, dauert die Herstellung eines Schuhs nur mehr fünf Stunden. Eine Individualisierung ist somit naheliegend.
Erwähnenswert an dieser Stelle sind auch die mittlerweile erschwinglichen Preise von 3D-Druckern im Consumer-Bereich. Kund:innen werden daher zukünftig ihre eigene Bekleidung zuhause produzieren können, oder 3D-Printshops übernehmen diese Aufgabe. Das bleibt natürlich auch nicht ohne Auswirkungen auf Bekleidungshersteller:innen und Designer.:innen Die Textilindustrie wird auch Raum für DIY-Kund:innen schaffen müssen. So könnten Bekleidungsunternehmen Kund:innen durch den Verkauf von Designdateien, Stoffen, Schnittmustern, 3D-Druckern, Nähmaschinen und Software an sich binden.
Beschleunigung der Logistikprozesse
Online-Kund:innen wollen nicht lange auf ihre Produkte warten. Sie sind durch Anbieter wie Amazon an kurze Lieferzeiten gewöhnt. Geschwindigkeit ist daher eine der wichtigsten Herausforderungen der Textilindustrie. Effiziente Wege sind hier dezentrale, hochautomatisierte Lager mit Lagerrobotern, Regalsystemen und Sortiermaschinen wie auch die Einbeziehung von Big Data in die Lagerlogistik zur Antizipation des Konsumverhaltens.
Eine Beschleunigung der Logistikprozesse wird darüber hinaus durch die Technologisierung der Kleidung ermöglicht. Smarte Bekleidung mit Sensoren und Geo-Location-Chips kann mit den Logistiksystemen direkt kommunizieren und ist auf diese Weise entlang der gesamten Wertschöpfungskette eindeutig identifizierbar und lokalisierbar. Gleichzeitig erhalten aber auch Kund:innen Informationen zur Herstellung der Kleidung oder wann sie z. B. zum letzten Mal gewaschen wurde.
Fazit: Textilindustrie braucht neue Geschäftsmodelle
Die Marktanteile herkömmlicher Textilunternehmen werden zunehmend von branchenfremden Akteuren abgeschöpft. Wearable Technology und Functional Clothing beschleunigen diesen Prozess. Hinzu kommen neuartige Produktionsmechanismen wie 3D-Druck, die es Kund:innen ermöglichen, Kleidung zuhause oder in dezentralen Printshops zu drucken. Das Markenimage wird daher in Zukunft nicht mehr ausschlaggebend sein, um Kund:innen zu gewinnen und zu binden. Vielmehr geht der Trend hin zum datengestützten Erkennen und Adressieren der individuellen Bedürfnisse der Kund:innen. Viele Anbieter:innen werden somit ihre Geschäftsmodelle radikal neu denken müssen.