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Anticipatory Logistics: Warum künftig vor der Bestellung geliefert wird

Zu wissen, wo welche Güter wann gefragt sind, bevor sie überhaupt gebraucht werden, würde das Logistikgeschäft wesentlich erleichtern. Dies lässt sich mit Predictive Analytics mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen und mit Anticipatory Logistics in die Praxis umsetzen.

Die Digitalisierung eröffnet die Chance, immer mehr Einflussfaktoren genau und teils in Echtzeit zu messen.

Es ist zweifellos ein enormer Wettbewerbsvorteil, die Zukunft zu kennen. Das wusste auch schon die sprichwörtliche Tante Emma mit ihrem Greißler-Laden. Als Prognosetools dienten ihr der Kalender, die Wettervorhersage, die Fähigkeit, ihren Kunden zuzuhören und eine gehörige Portion Menschenkenntnis. Aus diesen Informationen konnte sie das Einkaufsverhalten ihrer Kund:innen mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen: So wusste Tante Emma beispielsweise, wann sie mehr Grillfleisch beim Fleischer bestellen musste als sonst. Denn wenn das Wetter am Wochenende gut werden würde, könnte Frau Huber Besuch von ihren 3 Söhnen mitsamt ihren Familien bekommen. Und die liebten es alle, in Frau Hubers Garten zu grillen. So wie einige andere Einwohner:innen des kleinen Dorfes eben auch. Also orderte die Ladenbetreiberin mehr Grillgut als üblich. Es wäre ja unverzeihlich, wenn die Hubers oder gar das ganze Dorf zu wenig Fleisch bei Tante Emma vorfinden würden.

In diesem Beispiel nutzte Tante Emma Daten aus der Vergangenheit (Kenntnis über die Kund:innen) und der Zukunft (Wettervorhersage), analysierte sie und stellte mithilfe ihrer Erfahrung eine Prognose über das zukünftige Kaufverhalten auf. Diese Simulation der Zukunft löste einen Logistikprozesse aus, durch die noch nicht bestellte Waren in die Nähe ihrer potenziellen Abnehmer:innen gelangten, und bei Bedarf schneller verfügbar waren, als bei der auf reinen Fakten basierenden Vorgangsweise. Auch als die Greißler-Läden zu Supermärkten heranwuchsen und die Kund:innen dadurch anonymer wurden, bleib der Einzelhandel dem Modell von Tante Emma prinzipiell treu. Mit der Einführung der Scannerkassen konnte der stationäre Handel große Mengen an historischen Verkaufsdaten systematisch sammeln und und zu aggregierten Kaufprognosen auswerten. Diese Informationen sind ausschlaggebend dafür, welche Waren in welchen Mengen in den Lagerzentren vorrätig gehalten werden.

Digitalisierung erschließt neue Datenquellen

Die Digitalisierung hat die Anzahl der verfügbaren Daten-Quellen sprunghaft ansteigen lassen. An jeder Ecke wird getrackt, überwacht und aufgezeichnet. Das individuelle Kauf- und Suchverhalten der Konsumenten wird – zwar teils anonymisiert dafür aber umso penibler – vermessen. Die wachsende Anzahl der mit dem Internet of Things verbundenen Geräte  liefert eine noch stärker zunehmende Menge an Daten. Algorithmen errechnen daraus Erkenntnisse, die dann ihrerseits wiederum als neue Daten zur Verfügung stehen: Aus all diesen Daten lassen sich durch statistische Techniken wie Data Mining, Predictive Modeling oder auch Machine Learning Aussagen über den zukünftigen Zustand eines Systems errechnen. Diese Vorhersagemethode hört auf den Namen "Predictive Analytics" und illustriert mögliche Systemzustände in der Zukunft. Je mehr Daten als Basis dienen, desto wahrscheinlicher werden auch die Prognosen. Der nächste Schritt wäre es, aus dem durch Predictive Analytics generierten Zukunftsszenario konkrete Handlungen abzuleiten, die einen angestrebten Zustand herbeiführen. Wird diese Methode in der Logistik angewandt, spricht man von "Anticipatory Logistics" oder "Predictive Logistics".

Bier und Erdbeergebäck vor dem Sturm

Was nun sehr theoretisch klingt, hat die US-Warenkette Wal Mart im Jahr 2004 vorexerziert: Die US-Warenhauskette verfügte schon damals über unterschiedlichste Daten ihrer rund 100 Millionen Kund:innen. Diese verwendete Wal Mart, um mithilfe von Computermodellen das Konsumverhalten zu prognostizieren. Als der Hurrikan Frances die Atlantikküste von Florida bedrohte, nutzte die Einzelhandelskette dieses Wissen ganz gezielt: Die Berechnungsmodelle haben nämlich ergeben, dass der Bedarf an Bier und Erdbeer-Pop-Tarts vor einem Hurrikan massiv ansteigt. Also sorgte Wal Mart rechtzeitig vor dem Eintreffen der Naturkatastrophe dafür, dass die Stores in den betroffenen Regionen beide Produkten in ausreichender Menge vorrätig hatten. So konnte Wal Mart die Nachfrage besser bedienen als die Konkurrenz.

Amazon patentierte Anticipatory Shipping

Mit Anticipatory Logistics beschäftig sich auch Amazon und hat bereits 2013 ein Patent auf "Anticipatory Package Shipping" angemeldet. Der Konzern will damit die Lieferzeit erheblich verkürzen. Dafür liefert er Waren an ein Auslieferungslager, die die Kund:innen in diesem Gebiet zwar noch nicht bestellt haben, dies aber mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich tun werden. Für diese Prognose kann sich Amazon auf verschiedene Quellen stützen – etwa die Kauf- und Suchhistorie, die Merkzettel oder Wunschlisten und die Verweildauer des Mauszeigers auf bestimmte Angebote. Wie weit der "vorausschauende Versand" beim Amazon gediehen ist, verrät Norbert Brandau, Leiter des Amazon-Logistikstandortes im niedersächsischen Winsen gegenüber dem Medium Die Deutsche Verkehrs Zeitung: "Es geht nicht darum, den Artikel loszuschicken, bevor der Kunde bzw. die Kundin ihn bestellt. Vielmehr wollen wir den Bedarf so vorhersagen und die Ware im Netzwerk verteilen, dass wir sie bei der Bestellung schnell und ökonomisch zu den Kund:innen bringen können."

Amazon betreibt also noch kein "Anticipatory Shopping" bei dem ein:e individueller: Kund:in ein Paket mit Dingen bekommt, von dem der Händler glaubt, dass er sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu genau diesem Zeitpunkt gerne hätte. Pakete, die sie nicht geordert haben, bekommen einige Amazon-Kund:innen aber dennoch: Denn um bestimmte Produkte zu promoten, versendet der Online-Händler kostenlose Warenproben an ganz bestimmte Kund:innen. Wer sie bekommt, bestimmt Amazon auf Basis der Kund:innendaten. Diese neue Form des Produkt-Samplings bedeutet aber eher ein zusätzliches Geschäft für den Online-Riesen, denn die jeweiligen Firmen werden für den Versand ihrer Warenproben wohl etwas bezahlen müssen. Mit "Anticipatory Logistics" hat dies aber wenig zu tun.

Anwendungsmöglichkeiten für Anticipatory Logistics gibt es viele

Die Methode ist nicht nur imstand, Lieferzeiten zu verkürzen und die Lagerhaltung zu optimieren. Sie kann beispielsweise das gesamte Supply Chain Management wesentlich erleichtern: Live-Daten aus der Lieferkette, wie etwa die GPS-Position und die aktuelle Reichweite von Transportfahrzeugen, Informationen über den Zustand des Transportgutes, Wetterdaten, Verkehrsmeldungen usw. – sie alle fließen in Prognosemodelle ein, mit denen Zukunftsszenarien mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden können. Ist dieses Szenario unerwünscht – etwa die verspätete Ankunft eines dringend benötigten Ersatzteils – können automatisiert oder auch von Menschenhand, Gegenmaßnahmen ergriffen werden (Supply Chain Event Management).

Ein weiterer möglicher Anwendungsfall ergibt sich durch die Kombination mit Predictive Maintenance: Dadurch ist eine mehr oder weniger genaue Prognose möglich, wann ein Verschleißteil in einer Anlage ausgetauscht werden muss. Werden Ersatzteillogistiker:innen in den Predictive Maintenance Prozess einbezogen, können sie mithilfe von "Anticipatory Logistics" den notwendigen Ersatz genau zu dem Zeitpunkt liefern, zu dem er auch gebraucht wird. Simulationsbasierte Planung, so wie sie bei "Anticipatory Logistics" betrieben wird, ist jedenfalls in allen Branchen eines der ganz großen Ziele der Digitalisierung, betont Thomas Reppahn, Leiter Zentrale Logistics Product and Process Management der Schenker Deutschland AG gegenüber Logistik Aktuell. Der Experte gibt gleichzeitig zu bedenken: „Wenn wir so weit sind, dass wir ganze Lieferketten vorausberechnen und -steuern können, dann kann man die Digitalisierung der Geschäftsprozesse nahezu als abgeschlossen betrachten. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg – für alle Firmen der Welt."

Fazit: Anticipatory Logistics: Warum künftig vor der Bestellung geliefert wird

Die Logistik ist eine Branche, die von sehr vielen Eventualitäten abhängt. Die Digitalisierung eröffnet nun die Chance, immer mehr dieser Einflussfaktoren genau und teils in Echtzeit zu messen. Die mittels Predictive Analytics ausgewerteten Daten liefern Zukunftsszenarien, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreffen werden. Mit "Anticipatory Logistics" lässt sich das tatsächliche Eintreffen dieser Szenarien – je nach Wunsch – begünstigen oder verhindern. Die Einsatzmöglichkeiten von "Anticipatory Logistics" wachsen mit dem Digitalisierungsgrad. Noch steht die Technik aber ganz am Anfang.

 

Bildquelle Titelbild: https://www.pexels.com/photo/silhouette-man-standing-on-road-against-sky-during-sunset-327430/

Pauline Schmidt

Pauline hat einen ganzheitlichen Blick auf die Zukunft. Die Researcherin zeichnet mit ihren Ausbildungen in Psychologie und Sustainable Design ein klares Bild von Technologien, Trends und Märkte. Sie übersetzt – kreativ und analytisch zugleich – den Expert:inneninput in nächste Schritte für Ihr Innovationsvorhaben.
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